LX. Liebesbrief
Meine angebetete Alma, ich habe gestern Deinen Brief vom 3ten November erhalten. Deine Absicht, hierher zu kommen, und die Art und Weise, wie Du sie mir vorstellst, sind für mich von unschätzbarem Wert. Indessen glaube ich doch an mein Glück nicht eher, bis ich Gewissheit davon habe. Der Charakter der tiefen Leidenschaft, welche mich beherrscht, ist der Art, dass in dem Augenblick, wo Du vor meinen Augen einen Schein der liebsten Hoffnung glänzen lässt, meine Einbildungskraft, mitten in meinen Freuden, sich mit tausend Befürchtungen quält. Meine geliebte Alma, ich habe das größte Vertrauen zu Deiner Freundschaft, zu Deinen Worten; indessen kann ich doch nicht umhin, zu fürchten, Du könntest mir entrissen werden, und ich betrachte Dich mit den Augen eines Geizigen, der seinen Schatz bewacht. Ich bin sogleich zu E... gegangen, als ich Deinen Brief gelesen hatte; ich habe sie vor Freude strahlen sehen, denn sie hatte so eben auch einen erhalten. Indessen hegt sie, so wie ich, wenig Hoffnung, dass Du kommst, und I... zweifelt auch daran. Sie wird Dir schreiben, um Deinen letzten Beschluss zu erfahren. Auf jeden Fall sind wir überein gekommen, zu Niemanden von Deinem Vorhaben zu sprechen, bis wir gewiss sind, dass Du es zur Ausführung bringen kannst. Folge darin einzig dem Impuls Deiner Seele, lass nicht durch Rathschläge, von wem es auch sei, so weit auf Dich einwirken, dass Du ihnen Dein eigenes Gefühl um Dein Urteil unterwirfst. Lebe wohl, geliebter Engel, ich wage nicht zu sagen, auf Wiedersehen, aber ich erwarte mit unsäglicher Ungeduld, dass Du mir das so sehr gewünschte Wort schreibst. Alma, meine angebetete Freundin, das Gewicht des Schicksals lastet auf uns mit seiner ganzen Schwere. Niemals habe ich seine Gewalt empfindlicher erfahren, als in dem Augenblick des Entzückens, das mein Herz fühlte, als es von Dir das süße Versprechen empfing, welches Dein Brief enthält; es schien mir, als ob eine geheime Stimme mir zuflüsterte, dass es nicht in Erfüllung gehen würde. Wir sind die Werkzeuge eines Willens, der außer uns liegt; weit mehr davon, als von unseren eigenen Schritten, hängt unsere Zukunft ab.