LIV. Liebesbrief
Nach einer Verzögerung von fünf Tagen, welche der Schnee, der die Wege unfahrbar gemacht, verursachte, habe ich endlich sowohl durch Deinen Brief als durch die Zeitungen die Nachricht von Deinem Wiederauftreten in der Oper erhalten. Ich war des Beifalls gewiss, der Dich erwartete. Er hat mir ein lebhaftes Vergnügen, aber keine Verwunderung verursacht; und ich begreife nicht, dass Du einen Augenblick an einem enthusiastischen Empfange zweifeln konntest! Wo gibt es denn eine Künstlerin wie Du, welche mit einem Talente ohne Gleichen die entzückendste Schönheit und einen außerordentlichen Ausdruck verbindet, deren Anblick die durch die Kunst hervorgebrachte Bezauberung verdoppelt? Ein weibliches Wesen wie Du erscheint nur sehr selten auf der Bühne, und Du schätzest Dich nicht hoch genug. Du siehst nicht, welche Huldigungen Du verdienst, und wie sehr Du über den Leuten stehst, die Dich umgeben und Dich beurteilen wollen. Mehrere Blätter erzählen, dass, als Du bei Deinem Auftreten auf der Bühne mit einstimmigen Beifall, und unter einem Regen von Blumen empfangen wurdest, Du das Publikum begrüßt, indem Du Deine Hand an die Lippen geführt habest; bei dieser Bewegung erscholl ein Donner von Braves von allen Seiten, und man war so allgemein hingerissen, wie man im Theater noch kein Beispiel gesehen hat; ein solcher Gruß von einem Engel an Schönheit und Talent, hat notwendigerweise das berauschendste Entzücken in allen Pariser Köpfen hervorbringen müssen, welche über weit weniger außer sich sind. Aber, Alma, nimm mir die Bemerkung, welche ich wachen werde, nicht übel. Du bist eine Königin in Deiner Kunst, und eine triumphierende Königin. Der Beifall gebührt Dir; es ist für diejenigen ein Glück, welche ihn Dir zollen können, und für Dich ist es nur eine Huldigung, welche Dir von Rechtswegen und nicht aus Gnade zukommt: - so musst Du Deine Stellung betrachten; - das geringste Zeichen des Dankes ist hinreichend, um Deine Zufriedenheit zu bezeugen. Ich begreife wohl, dass eine Künstlerin, welche ihre Zeit gehabt hat, oder nur ein halbes Talent besitzt, eine mittelmäßige Schönheit, welcher man nur aus einem Gefühle von Wohlwollen oder in Rückerinnerung der Vergangenheit Beifall schenkt, sich zu außerordentlichen Äußerungen des Dankes hinreißen lässt; Du aber darfst nicht so handeln. Das Publikum ist ein leichtfertiger Freund, auf den man nicht rechnen kann, und wenn man über seine Gefühle herrscht, so muss man ihm nicht zu viel Beweise dieser Art, angedeihen lassen. Ich weiß wohl, dass Du der plötzlichen Eingebung Deiner so sanften, so liebenden Seele nachgegeben hast; aber die Menge ist nicht im Stande, Dich in dieser Beziehung zu schätzen, und wenn der erste Augenblick der Extase und Bewunderung vorüber ist, wird sie andere Gedanken haben. Schon drückt sich die Kritik des ... darüber in übel wollender Absicht aus. Höre auf meine Freundschaft, meine Lebenserfahrung; sei sehr umsichtig in Deinen Schritten. Verzeihe mir, dass ich Dir diesen Rat so oft wiederhole; ich muss es, denn ich bin Dein wahrer und ergebener Freund; nicht ein Freund, wie das Publikum! Und von wem würdest Du die Wahrheit hören, wenn nicht von mir? Ich weiß, dass sich die Königinnen zuweilen ärgern, wenn man sie ihnen vorstellt, wenn sie aber so viel Geist besitzen wie Du, so schätzen sie am Ende die rechtliche, von einer aufrichtigen Anhänglichkeit vorgeschriebene Freimütigkeit.