XXXIX. Liebesbrief
Meine geliebte Alma, ich habe die beiden Romane, welche Du mir empfohlen, durchgelesen; der erste ist ein unglücklicherweise zu wahres Bild der Verworfenheit und ihrer grausamen Erfolge. Diese Art von Lektüre, weit entfernt mich anzuziehen, verursacht mir eine wahre moralische Tortur. Ich möchte in den Werken der Einbildungskraft, so wie in den theatralischen Darstellungen nur Stoffe finden, welche das Herz durch freundliche Gedanken beruhigen, oder es wenigstens durch Erzählungen des Misslingens und der Bestrafung der Lasterhaften oder Verbrecher, zufrieden stellen. Man hätte der Geschichte allein die Sorge überlassen sollen, die verzweifelten Tatsachen zu verzeichnen und herzuzählen, welche uns fast immer die Triumphe gehässiger, selbstsüchtiger, heuchlerischer Berechnungen, und die Unterdrückung der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der wohlwollenden Leidenschaften zeigen. Ja, die Wirklichkeit ist so entmutigend, so traurig für den sanften, ehrlichen, aufrichtigen Menschen, dass ein Schriftsteller wirklich strafbar ist, der mit seinem Geiste bei diesen traurigen Bildern vorzugsweise verweilt, darauf sinnt, erhabene Charaktere, fleckenlose Schönheiten zu erschaffen, um sie nach Belieben in ein Meer wilder, unverdienter Schmerzen zu stürzen, und mit Hilfe täuschender Trugschlüsse, eine Art von Interesse für ihre mit Genüssen überfüllten, durch den Erfolg freigesprochenen Henker zu erwecken sucht. Was ist der Zweck, was die Moral, solcher Darstellungen? Sie schüchtern ein, betrüben die mit tugendhaften Neigungen begabten Charaktere, und bereiten böse Gemüter auf raffinierte Methoden vor, um ihre gehässigen Ränke auszuüben. Aber heut zu Tage haben die Schriftsteller gewöhnlich keine anderen Absichten als das gewöhnliche Interesse, oder das des geselligen Kreises der Partei, welcher sie sich zugesellen, und wenn man aus den tausenden von Bänden, welche jährlich erscheinen, nur die schönen, gerechten und nützlichen Gedanken, die mit Geschmack und Wahrheit gemachten Schilderungen aufbewahren wollte, so würden sie gar wenig Blätter füllen. Was den zweiten dieser Romane betrifft, so besitzt er, obgleich er auch von dem Hauptfehler, den ich an dem ersten bezeichnete, angesteckt ist, doch das Verdienst unter dem Eindruck neuer Gedanken und eines höheren Schwunges geschrieben zu sein; aber es scheint, als habe die Verfasserin sie nur verwirrt empfunden, schwach entwickelt, und in einem Lichte dargestellt, welches durch die schlecht berechnete Wahl der Situationen, wenig folgerecht ist. G... S... würde eine große Stütze für eine gerechte Sache gewesen sein, wenn ihr Genie und ihre Beredsamkeit von einem festeren Urteile geleitet worden wären; aber sie verfällt ohne Unterlass in Extreme. Zuweilen erhebt sie sich zu einer Höhe, wo es an Luft fehlt und das Licht trübe wird, dann gefällt es ihr wiederum, abstoßende Verhältnisse zu schildern, deren wahren Ursprung sie nie andeutet; so scheint sie nicht das Wahre selbst, sondern nur seinen Schatten zu verfolgen. Übrigens hat sie den unglücklichen Geschmack, ihre Heldinnen zu Pferde mit der Reitpeitsche in der Hand einzuführen, was schwerlich ein Mittel ist, sie interessanter zu machen. Eine Frau wird um so weniger liebenswürdig, als sie in ihren Manieren den Gewohnheiten nachahmt, welche nur der kräftigen Organisation des Mannes ziemen. Diejenige, welche sich in einen Stallmeister verwandelt, ist in meinen Augen eben so wenig angenehm als ein Mann, welcher Tänzer wird. Betrachtet man die Leistungen G... S...'s aus dem allgemeinsten Gesichtspunkte, so muss man glauben, dass ihr Zweck sei, die Meinung zu befragen, ohne ihre eigene an den Tag zu legen; aber ich glaube, dass das hergebrachte, vom Interesse unterstützte Vorurteil ein Feind ist, mit dem man sich nicht messen muss; es bringt keine Zugeständnisse in Anschlag; wenn die Kraft ihm fehlt, so rechnet es sich's nicht zum Fehler an, die List zu gebrauchen; schonende Waffen reizen es, ohne es zu besiegen; von vorn, und auf Leben und Tod muss man es angreifen. Eine glühende Liebe für Gerechtigkeit durchdringt meine Seele, und ich fühle mich um so schmerzhafter bewegt, wenn Personen in einer Stellung, die ihnen erlaubt, sich ruhmvoll in edlen Gefühlen zu ergießen, schweigen, oder sie nur in Form rätselhafter Schutzreden an den Tag zu legen wagen. Soll man daraus schließen, dass wir uns unter dem Drucke eines Schicksals-Leidens, vielleicht des der Wiedergeburt befinden, deren Zeit feststeht? Vergebens möchten einige, mit einer verhängnisvollen Voraussicht begabten Seelen, im Wahnsinn der Ungeduld den Zeitpunkt der Strafe beschleunigen; die Welt wird sie vor der bestimmten Stunde nicht hören, und nagenden Sorgen, unauflösbare Schlingen, armselige Hindernisse werden ihre Anstrengungen beschränken, sie einen um so heftigeren Schmerz empfinden lassen, als ihre Wünsche sich weit über die Grenze der Wirklichkeit, welche durch eine unüberwindliche Gewalt bestimmt ist, emporschwingen. Ach? möchten diese grausamen Qualen für sie das Zeichen einer baldigeren Befreiung, wenn nicht das einer letzten Prüfung sein.