XXXV. Liebesbrief
Alma, meine angebetete Freundin, ich schicke Dir den Artikel des ... von Paris, welchen ich übersetzen und in die Zeitungen von M... einrücken ließ, so wie einen Auszug aus Deinem Blatte von B..., aus welchem ich das genommen, was mir gut schien, und die abgeschmackten und unendlich falschen Behauptungen weggelassen habe. Ich sehe mit großem Schmerze, dass Menschen, welche unfähig sind, Dein Verdienst zu würdigen, ein so vollkommenes Wesen, welches dazu bestimmt zu sein scheint, die Herzen zu beherrschen, in einem falschen Lichte darzustellen streben. Es bedarf, möchte ich sagen, einer wunderbaren Vereinigung der seltensten Eigenschaften, um eine wahrhaft große dramatische Künstlerin zu bilden, vorzüglich in der Kunst einer Mime und Tänzerin zugleich, wie Du es bist; aber auch um im Stande und wahrhaft würdig zu sein, die Kunst und die Schönheit zu schätzen, gibt es unerlässliche Bedingungen, denen man nicht oft in derselben Person begegnet. Zuerst, eine hohe Empfänglichkeit und Richtigkeit der Sinne, des Herzens und des Verstandes; dann die sich selbst bewusste Ausübung dieser Anlagen, auf die bemerkenswertesten Gegenstände in der Kunst im Allgemeinen angewandt; endlich muss man damit auch eine, wie Du es nennst, schaffende Einbildungskraft verbinden, welche aus edler und sanfter Begeisterung ein Ideal des Schönen zu schöpfen weiß, ein erhabenes Urbild, welches den vom Geiste gefällten Urteilen als Maßstab der Vergleichung dienen kann. Nur mit Hülfe dieser Bedingungen kann man Anspruch darauf machen, eine Schilderung Deines Talents und Deiner Reize zu geben. Man sagt gemeinhin, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt; das ist für die größte Anzahl der Menschen wahr, denn ihre Begriffe vom Schönen stehen in Beziehung zu ihrer größeren oder geringeren Befähigung es zu unterscheiden, und die Menge, welche man das Publikum nennt, ist in diesem Punkte am ärmlichsten begabt; sie lässt sich blindlings von denen leiten, welche sie für besser unterrichtet hält, als sich selbst. Du weißt, wer gegenwärtig meistenteils die Lenker dieser Sympathien sind, wie viel Geschmack, Verstand und Uneigennützigkeit sie besitzen. Es muss Dich sehr betrüben, zwangsweise genötigt zu sein, über den guten oder bösen Willen dieser Herren Rechnung zu führen. Dies ist ein von eitlen Mittelmäßigkeiten geschmiedetes Joch, dem sich wahrhafte Talente, wie mir scheint, mit ein Wenig zu viel Ergebung unterwerfen. Lebe wohl, mein guter Engel. Nimm, die Freimütigkeit meiner Bemerkungen nicht übel; - Du wirst es nicht tun, denn Du weißt, ich bin Dein wahrhafter Freund, und wenn ich das Glück hätte, Dir Millionen zu Füßen legen zu können, so würde es nicht geschehen um (wie sich Dein Dichter in B... ausdrückt) "dadurch Deine köstlichen Küsse zu erhalten," sondern um Dich in eine Lage zu versetzen, wo Niemand es wagen dürfte, Dir solche sonderbare Komplimente zu machen, als die, zu welchen dieser Mensch sich erdreistet.