XXXVII. Liebesbrief





Ich habe Deinen Brief vom 30. September erhalten, meine schöne, gute und geistreiche Alma; Du bist das allervollkommenste Wesen, das es auf der Erde geben kann. Außer dem unendlichen Reize Deiner Person, wie viel besitzest Du nicht von jenem Takte, von jener in der Welt so nötigen Lebensklugheit; wie weißt Du nicht zur rechten Zeit zu sprechen und zu schweigen; welche Geistesgegenwart in allen Deinen Handlungen; mit welcher nachsichtsvollen Geduld siehst Du das Unrecht und die Irrtümer Anderer! Wenn es in meiner Macht stände, ein Weib nach meinen Wünschen zu schaffen, so möchte ich Alma hervorgebracht haben. Jedes Mal wenn ich die Schilderung eines Wesens lese, welches die Einbildungskraft des Dichters und des Romanschreibers uns mit den anmutigsten Formen und den anziehendsten Eigenschaften begabt, darstellt, so sage ich mit Entzücken zu mir selbst: Meine vielgeliebte Alma verwirklicht in sich nicht nur alle diese bezaubernden Bilder, sondern sie übertrifft sie noch. Selbst die von der menschlichen Natur unzertrennlichen Schwächen sind in Dir wie zart gezeichnete Schatten, um den Glanz Deiner Schönheiten nur noch zu erhöhen. Ja, Du bist eines jener höheren Wesen, welche nur wie seltene und glänzende Meteore erscheinen, indem sie jedes andere Licht verdunkeln. Eine Seele, Die Dich geschätzt und geliebt hat, kann keinen anderen Gegenstand finden, der ihr zu gefallen, würdig wäre. Ich habe durch Dich Stunden der unaussprechlichsten Glückseligkeit verlebt; ich hätte mir aber nicht schmeicheln sollen, dass ein solches Glück zurückkehren und dauern kann. Ich bin ein für alle diplomatische Feinheit unfähiger Mensch, und vielleicht oft unvorsichtig in meinen Manieren und Ausdrücken; ich kann die Begeisterung meiner Gedanken nicht beherrschen, noch die Bewegungen meiner Seele verbergen. Mit einem solchen Charakter ist man sehr zu beklagen; und es gelingt einem nur durch Zufall Etwas. Sei glücklich, meine Alma, das st mein glühendster Wunsch, und ich glaube fest, dass Du es sein wirst; mein Herz hat ein gewisses Vorgefühl, dass Gott mich hierin erhören wird. Teure Freundin; Du sagst mir, dass ich mir darin gefalle, Dich eitel zu machen; nein, gewiss nicht, ich habe dies keineswegs beabsichtigt: und wünsche nur Dir Gerechtigkeit zu zollen. Es gibt Züge der Schönheit, welche eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Reizen der äußeren Form und den Eigenschaften der Seele bezeichnen; diese sind es, welche mich an Dir bezaubern: diese Züge bilden den Typus des Schönen, so wie es die ausgezeichnetsten künstlerischen Geister verstanden, welche im Schoße der mit Bezug auf Tendenzen der Vervollkommnung am besten organisierten Geschlechter, geboren sind; wenige Augen wissen diese ausnahmsweisen Reize zu unterscheiden, der große Haufe verwechselt sie mit den herkömmlichen Schönheiten, welche lediglich durch physische Empfindungen bestimmt werden, ohne Verbindung mit geistigen Impulsen, oder doch nur mit einer sehr schwachen und verwirrten Tätigkeit von ihrer Seite. Wenn man ein Schiedsgericht der Schönheit einsetzte, was sehr nützlich sein würde, so müssten Leute von lebhafter Einbildungskraft und von außerordentlicher Empfindsamkeit den Vorsitz darin haben; die Mehrzahl, welche sich vorzugsweise für materielle Leidenschaften begeistert, hängt sich zuweilen an die Elemente der Hässlichkeit, um daraus nach ihrer Weise eine vorgebliche Schönheit zu formen.