XXXIII. Liebesbrief
Teure Alma, man hat in dem so eben erschienenen Briefwechsel der Madame V... einige Briefe von G... aufgenommen, worin er sich nur mit Dir beschäftigt; gestern habe ich durch Zufall das Dasein dieses Buches erfahren, welches mich lebhaft interessiert hat, denn die Gefühle, die du dem Andenken dieses Mannes bewahrst, und die rührenden Ausdrücke, in denen Du sie mir geschildert hast, sind tief in meinem Gedächtnisse eingegraben, als einer der Charakterzüge Deiner schönen Seele. Du kennst meine Unfähigkeit und meinen Widerwillen gegen das trockene Studium der Sprachen. Die Briefe von G... haben mich in dieser Beziehung über meine gewohnte Trägheit triumphieren lassen, und ihnen zu Liebe habe ich in einigen Wochen mehr Deutsch gelernt, als mir während mehrerer Jahre meines Aufenthalts in diesem Lande, gelingen wollte. Ich schicke Dir als Probe die Übersetzung, welche ich daraus, nur mit Hülfe des Wörterbuches gemacht habe. Das Schicksal G...'s ist beneidenswert; Du hast ihn bis zu seinem letzten Seufzer mit kindlicher Sorge umgeben; jeden Tag betrachtete er Deine geliebten Züge, labte sich Mi dem Reize Deiner Blicke, dem bezaubernden Tone Deiner Stimme und den süßen Worten, welche Dir Dein so reines Herz, Dein heller Verstand eingab. Er gefiel sich darin, Dein Genie zu erraten, es auszubilden, und wenn ihn seine Beschäftigungen auf Augenblicke von Alma entfernten, so steigerte die Gewissheit, sie bald wieder zu sehen, in den kurzen Abwesenheiten die Kraft seines Geistes, um sich der Arbeit hinzugeben, welche die Erwartung einer gesicherten Glückseligkeit leicht und anziehend machte. Es ist sehr natürlich, dass ihn der Gedanke an den Tod erschreckte; auch sagte Frau von V... in dieser Beziehung zu ihm: "Der arme Glückliche, welcher einen so kostbaren Schatz besitzt, muss sehr oft zittern, bei dem schrecklichen Gedanken, sich dessen beraubt zu sehen." Ich wurde beim Lesen dieser Briefe von der Ähnlichkeit einiger seiner Gedanken mit den meinigen, in Bezug auf Deine Zukunft, überrascht; indessen musste sein Charakter von dem meinigen wesentlich verschieden sein; er war als ein geschickter Diplomat anerkannt, sein Schicksal hing von diesem Berufe ab, in welchem die Verstellungskunst das Studium jedes Tages, und die kalte Unempfindlichkeit gegen Recht und Unrecht, eine im voraus eingegangene Verbindlichkeit bei dem Eintritte in diese Laufbahn ist, in welcher mir kein Schritt ohne zu straucheln gelungen wäre. G... schläft jetzt den ewigen Schlaf, aber seine Stimme erhebt sich noch aus dem Grabe, und macht vor dem Weltall die Schönheiten und die wahrhaften Tugenden Almas unsterblich, dieser engelgleichen Erscheinung, welche der Neid und die Verleumdung so unwürdig angegriffen haben. Er hat Dich mit Glück, mit Weisheit geliebt, und konnte er (wie er sich poetisch ausdrückt) "jenes Frühlings Veilchen, welches nur für ihn auf einem mit Eis bedeckten und mit Gräbern bevölkerten Felde blühte, nicht lieben?" Erinnerst Du Dich, dass unser erstes Begegnen, unmittelbar nachdem Du ihn verloren hattest, stattfand, und dass, aus dem Hause seiner Schwester tretend, Deine Hand zum ersten Male die meinige berührt hat? Wer weiß, ob seine Seele, mit meinen Gedanken identifiziert, nicht gesehen hat, dass ich allein ein Herz hätte, welches fähig wäre, Dich zu schätzen und zu lieben, wie Du es zu werden verdienst! Alma, es gibt eine bessere Welt, welche uns erwartet: Du bist ein lebender Beweis davon; eine Seele wie die Deinige muss unsterblich sein; sie ist es ohne Zweifel. Diese Erde, deren Zierde Du noch lange sein wirst, ist größtenteils nur mit blinden Egoisten bevölkert. Hüte Dich vor ihren Fallstricken; wenn sie lieben, so haben sie nur ihre persönliche Zufriedenheit, und nicht das Glück des geliebten Gegenstandes im Auge, wenn sie hassen, so sind es nicht die Laster und die Verbrechen, welche ihren Abscheu erwecken, sondern einzig und allein das, was ihre Interessen verletzen könnte.