XXX. Liebesbrief
Meine Freundin, meine geliebte Alma, Leitstern meines Lebens, Dein sanftes Licht gelangt nicht mehr zu mir; verhängnisschwere Wolken fangen sein glänzendes Zittern auf, welches in meinem Herzen entzückende Gefühle mitschwingen ließ. Der grausame Sturm, welcher uns trennt, hat mein Dasein nicht verschlungen; indem er mich aber in eine Einöde schleudert, sind ihm alle meine Hoffnungen zur Beute geworden. Ach! möge er nicht auch Dich erreichen! Möge in der Sphäre, die Dir das Schicksal angewiesen, der Himmel stets rein und heiter sein! Ich betrachte mit unsäglicher Mutlosigkeit den rauen Weg, der mir übrig bleibt, und mein Geist wendet sich gänzlich einer Zeit zu, die nicht mehr ist; er sucht sich Rechenschaft über Alles zu geben, was er gelitten; zu ergründen: durch welche verhängnisvolle Ursachen die erhabensten Wünsche und die herrlichsten Bewegungen des Herzens, welche einzig dem Menschen der Gottheit nähern, dahin gelangen, sich in das erniedrigendste der irdischen Gefühle, der Eifersucht und den Zorn zu verwandeln! wie die Liebe die scheußlichen Formen des Hasses annehmen kann! Alma, man hat den Begriff des Namens der Liebe, einer sympathetischen Leidenschaft in welcher der Gedanke die ätherischsten Impulse der Sinne anreizt, entheiligt und zu trügerisch ausgedehnt; dieser Kampf der intellektuellen und materiellen Empfindungen, nimmt nach dem Charakter der Individuen eine Unendlichkeit von Schattierungen an; selten herrschen dabei die ersteren vor, und nur dann vergrößert die Liebe die Tätigkeit der rein zärtlichen Neigungen, leitet die Einbildungskraft zu erhabener Ergebung, gibt dem Gefühle, den Handlungen, ein sanftes und edles Gepräge, und nähert sich auf seinem Kulminationspunkte der frommen Anbetung, der himmlischen Vermittlerin zwischen Gott und dem Menschen. Aber gewöhnlich üben die Kräfte der physischen Empfindungen ein vorherrschendes Übergewicht aus, indem sie, je nach ihrer mehr oder weniger mächtigen Tätigkeit, zu egoistischen Tendenzen hinreißen, welche auf ihrer niedrigsten Stufe, sich nicht von den gänzlich materiellen Neigungen unterscheiden, und eine tierische Leidenschaft, den Hebel zu gefährlichen Verwirrungen, hervorbringen. Um sich dieser Leidenschaft zu bemeistern, bat man es für nötig erachtet, sie in gewisse Regeln zu zwängen, und, wenn sie sich ihnen unterwirft, sie gesetzlich zu machen, sie zu heiligen, und sie dem Namen nach zu dem Gefühle der Liebe zu erheben! Wenn man auf diese Weise dahin gelangt, grobe Übertretungen teilweise zu beherrschen, hat man da nicht im Gegensatz die engelgleiche Leidenschaft einer wahrhaften Liebe erniedrigt, indem man sie gewaltsam mit der Hoffnung des Besitzes verbindet, oder sie vielmehr damit krönt, welcher so (durch eine Verwirrung der Begriffe) die Hauptrolle in den Kämpfen des Herzens und den Träumen der Einbildungskraft spielt? Dieser irre gehende Impuls hat sich dergestalt mit unseren Sitten verschmolzen, dass man nicht zu bemerken scheint, wie viel Erniedrigendes und Abgeschmacktes darin liegt! Hat man nicht auf diese Weise, um einen wahrscheinlichen Missbrauch von Seiten gemeiner Wesen zu vermeiden, Mittel angewandt, welche, diesen Zweck übersteigend, edle Seelen irre führen? Hat man nicht, indem man vertragsmäßige Tugenden einsetzte, der wahren Tugend, die in der Wahrheit, Gerechtigkeit und in der Barmherzigkeit besteht, Eintrag getan? Würden endlich die Familien-Bande nicht mit mehr Sicherheit verbürgt und vor Heuchelei bewahrt werden, wenn der geheiligte Name der Tugend, für beide Geschlechter nur dieselbe Bedeutung hätte, und wenn die an diese Banden geknüpften Rechte und Verbindlichkeiten keine so übertriebene Ausdehnung erhalten hätten? Je mehr ich an die Hauptursache meiner Schmerzen denke, um so mehr finde ich mich veranlasst, alle diese Fragen bejahend zu beantworten; aber jede gesellschaftliche Wahrheit, hat nur eine Zeit, wo sie keimen kann; zu früh entsprossen missrät sie und dient nur dazu, denen, die sie gesät, Leiden zu bringen.