XX. Liebesbrief





Teure Alma, Du suchst mich durch die zärtliche Freundschaft die Du mir zeigst, zu beruhigen; aber wenn eine unbezähmbare Liebe sich mit Heftigkeit eines Herzens, wie des meinigen, bemächtigt, so kann Nichts in ihm die Schmerzen der Abwesenheit dauernd beschwichtigen. Meine Leidenschaft ist keine blinde Neigung; die Vernunft bestärkt sie; ich schätze in Dir jene schöne und edle Natur, die nicht nur über die Hindernisse triumphierte, welche den glücklichen Keim Deines Charakters verderben konnten, sondern Dich auch die köstlichsten Eigenschaften der Seele entwickeln ließ, deren Verdienst zu würdigen allein schon viel ist; auch verfahre ich mit Dir wie die Frommen mit ihren Gottheiten, ich richte ohne Unterlass dieselben Lobpreisungen an Dich, aber rein von Schmeicheleien, denn man kann denen nicht schmeicheln, welche man für vollkommen hält. So groß ist meine Anhänglichkeit für Dich, angebeteter Gegenstand aller meiner Wünsche, dass Dein Andenken mir wie ein unzertrennlicher Schatten folgt. Du allein kannst die süße Kette brechen, welche mich an Dich fesselt, und selbst dann, auf dem Gipfel des Unglücks, würde ich noch sagen: Alma hat wahrscheinlich wohlgetan, sie kann nicht schlecht handeln. Denke nicht meine geliebte Freundin, dass mein leidenschaftlicher Charakter mich bis zu der Torheit oder Schwachheit einer Indiskretion verleiten, wenn diese Andere nur im Geringsten schmerzlich berühren könnte, und vorzüglich eine Person, die mir so teuer ist wie Du. Glaube nicht, dass ich weder E... noch irgend einem Anderen etwas über unser Verhältnis anvertraue; ich habe mir häufig durch meine zu große Offenherzigkeit selbst geschadet, aber ich darf mir nicht vorwerfen, durch diesen Fehler jemals einem Anderen Unrecht getan zu haben. Ich verhehle es nicht, dass ich Dich leidenschaftlich liebe; im Gegenteil rühme ich mich dessen, aber ich vermeide es selbst, von Dir zu sprechen; denn es gibt Lippen, von welchen mir Dein Name entheiligt scheinen würde. Ich habe vor Kurzem E... leidend, traurig gesehen; und da ich lebhaft ergriffen zu werden pflege, wenn ich Jemanden in Schmerzen erblicke, so machte ich mir im Grunde meines Herzens Vorwürfe, sie vielleicht falsch beurteilt zu haben. Was mich zu ihr hinzieht, ist die Möglichkeit dort ungehindert tausendmal wiederholen zu dürfen, wie sehr ich Dich liebe; dies erleichtert mir das Herz, und es ist mir vergönnt zu glauben, dass die Bewunderung, welche ich Dir zolle, ihr Vergnügen macht; dann überlasse ich mich der ganzen Trunkenheit, welche mir meine aufrichtige und glühende Liebe für die angebetete Alma einstößt. Lebe wohl, liebe Freundin, ich erwarte ungeduldig den Brief, wodurch Du mich sogleich von Deiner Entscheidung im Betreff Deines Aufenthalts in Paris zu benachrichtigen versprachst, sobald Du Dich darüber bestimmt hast.