XVI. Liebesbrief
Diesen Morgen war der erste Gegenstand, welcher meinen Augen erschien, Dein Brief; welch' süßes Erwachen verdanke ich Dir! Wie sollte ich den tröstenden Engel meines Daseins nicht mit enthusiastischer Verehrung lieben! Wenn ich Dir häufig schreibe, so ist dies natürlich, denn Du bist die Seele meiner Seele, das Wesen des Schicksals, in welchem sich alle meine Empfindungen konzentrieren; aber Du, deren Augenblicke eine Menge Pflichten und angenehme Zerstreuungen in Anspruch nehmen, wenn Du mir schreibst, so ist es eine Wohltat, ein Opfer. Deine Ahnungen sind in Erfüllung gegangen. .... Meine geliebte Freundin, die Kräfte der Sympathie, welche die Ahnungen und die Träume einflößen, die die Zukunft voraus sagen, sind abwechselnd in verschiedenen Jahrhunderten, als wichtige, zu ergründende Wahrheiten betrachtet worden, oder als verächtliche Vorurteile; ich glaube dass sie "Nicht Ehr' im Übermaß, nicht der Verachtung Blick," verdienen; aber dass sie häufig, sehr häufig, vorzüglich bei nervösen und sehr reizbaren Personen, oder solchen die von einer heftigen Leidenschaft beherrscht werden, einen merkwürdigen Charakter der Wahrheit annehmen. Ich erfahre dies seit einiger Zeit an mir; und da Du mir sagst, dass Du auch ein merkwürdiges Eintreffen Deiner Träume, Deines instinktmäßigen Voraussehens und der darauf folgenden Ereignisse bemerkt haft, so nehme ich keinen Anstand, Dir die meinigen mitzuteilen, und Du wirst sehen, dass wachend oder träumend Du die Beherrscherin meines Herzens bist. Angebetete Alma, diese so große, so leidenschaftliche Liebe, welche mich an Dich fesselt, ist an und Für sich eine Verwirklichung meiner Vorgefühle. Als ich anfing mich zu kennen, mir bewusst wurde ein geistiges Leben zu führen, war das Ideal der Vollkommenheit das vorherrschende Streben meiner Seele. Zu lebhaft empfänglich für seine zartesten Schattierungen wünschte ich es in allen Dingen; es war der Hebel und die Qual meiner Tage; kaum glaubte ich es erreicht zu haben, als es mir entschlüpfte, denn ein einziger Fehler reichte hin, den Gegenstand, der mich anzog, in meinen Augen zu verdunkeln, und die Täuschung, welcher ich mich hingab, verschwand augenblicklich, indem sie mein Herz derselben unersättlichen Glut zum Raube ließ. Entmutigt durch diese Irrtümer, weder in mir noch in Anderen das findend, was mich befriedigen konnte, überließ ich mich bald einer vollkommenen Sorglosigkeit, bald den Vergnügungen ohne Wahl und Zweck. Ich suchte auch in den schwierigen Beschäftigungen des Studiums die unruhigen Impulse meines Geistes zu beschwichtigen; ich habe Alles versucht, ausgenommen den Ehrgeiz, denn ich fühlte mich zu stolz, um den üblen Nachgeschmack zu ertragen, den er mit sich führt. Aber unnütz waren meine Anstrengungen; ich begegnete nur der Unzulänglichkeit, um das Begehren meiner Seele zu erfüllen, und doch hatte ich ein Vorgefühl, dass es auf der Erde einen Gegenstand geben müsse, der meinen Wünschen entsprechen könnte. Ich gefiel mir darin, mir in Gedanken ein bezauberndes Bild, mit den verführerischsten Formen der Schönheit geziert, zu erschaffen; ich begabte es mit den süßesten Eigenschaften des Herzens; ich schmückte es mit den reizenden Talenten, welche das Genie verleiht. Ein einziges Mal erschien es mir in einem aufgeregten Traume und machte auf mich einen tiefen Eindruck, der erweckt wurde, sobald ich einige Züge jenes Werkes meiner Einbildungskraft zu erkennen schien; aber bald entdeckte ich Unvollkommenheiten, welche seinen Reiz zerstörten; Du allein, meine Alma, Du so vollkommen, so ohne Gleichen, Du haft jenes Bild der ganzen Schönheit in mir verwirklicht. Jeden Tag finde ich Dich der Liebe mehr wert; die Vorsehung hat Dich aus den vortrefflichsten Elementen gebildet, ohne irgend eine Beimischung, welche den Reiz schwächen könnte. Du vereinigst Alles, was meinem Herzen, meinen Leidenschaften, meiner Vernunft schmeicheln kann: eine bewunderungswürdige Schönheit, an deren Reinheit auch kein einziger Makel haftet; eine himmlische Sanftmut, eine zauberische Hingebung, mit deren entzückender Wollust Nichts verglichen werden kann; einen edlen Charakter, einen lebhaften und glänzenden Geist, ein erhabenes Genie und das Wunder des einzigsten, lieblichsten, äthcrischten Talents von dem die Einbildungskraft träumen kann; Alles in Alma, in Alma allein, hat meine Wünsche übertroffen: jene unvergleichliche Vereinigung der seltensten Eigenschaften, ich habe sie gesehen, ich habe sie gekannt, ich habe ihre Wonne empfunden; und dann bist Du verschwunden, und ich bin hier, wie jene Verdammten, welche aus dem Himmel in den ewigen Abgrund gestürzt sind. Seit jener Zeit zieht jeder Augenblick meines Daseins (dies ist kein übertriebener Ausdruck, sondern die genaueste Wahrheit) meine Gedanken zu Dir hin. Abwechselnd von den Qualen der Reue, des vergeblichen Verlangens, der Ungeduld und der Verzweiflung verzehrt, erliege ich dem Drucke des Schmerzes, aber ich segne Deine Reize; sie haben meine Seele mit einem reinen Lichte erhellt; ich verdanke ihnen die süßesten Augenblicke meines Lebens, deren Andenken in meinem Herzen herrscht, und mich gegen jede andere Freude gleichgültig macht.